Das Landgericht Hamburg entschied kürzlich, dass der Roman »Innerstädtischer Tod« von Christoph Peters trotz möglicher Erkennbarkeit eines Galeristenehepaars nicht verboten werden darf. Dieser Fall wirft erneut die Frage auf: Wie weit reicht die Kunstfreiheit, und wo beginnt die Rechtsverletzung durch Bücher? Ein Blick auf den wegweisenden Esra-Fall des Bundesverfassungsgerichts verdeutlicht die juristischen Abwägungsmechanismen.
Der Esra-Fall: Präzedenz für Persönlichkeitsrecht und Kunstfreiheit
Im Fall des Romans Esra (BVerfG, Beschl. v. 13.06.2007 – 1 BvR 1783/05) untersagte das Gericht die Verbreitung des Werks, weil es die Persönlichkeitsrechte der Ex-Partnerin des Autors verletzte. Entscheidend waren dabei:
- Identifizierbarkeit: Die Protagonistin war durch preisgekrönte Auszeichnungen und biografische Details für einen relevanten Personenkreis erkennbar.
- Intimität der Inhalte: Der Roman enthielt detaillierte Schilderungen der sexuellen Beziehung und einer lebensbedrohlichen Krankheit der Tochter – beides Aspekte des geschützten Intimbereichs.
- Fiktionalisierungsgrad: Das Gericht monierte, dass der Autor Erlebnisse als authentische Erzählung aus der Ich-Perspektive darstellte, ohne ausreichend künstlerische Distanz zu schaffen.
Das Bundesverfassungsgericht betonte, dass die Abwägung zwischen Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) und Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) stets einzelfallabhängig ist. Je näher eine Schilderung am „Menschenwürdekern“ liege, desto stärker wiege das Persönlichkeitsrecht.
Aktueller Fall vs. Esra-Entscheidung: Warum das LG Hamburg anders urteilte
Im Hamburger Fall erkannte das Gericht zwar, dass sich das Galeristenpaar im Roman wiederfinden konnte. Dennoch fehlten zwei zentrale Elemente des Esra-Urteils:
- Keine Intimbereichsverletzung: Die geschilderten Sachverhalte betrafen nicht den engsten privaten Lebensbereich.
- Ausreichend künstlerische Überformung: Anders als in Esra wurden reale Ereignisse nicht als faktentreue Schilderung präsentiert.
Das Gericht wertete dies als „Sozialadäquanz“ – eine Bagatellgrenze, bei der die Kunstfreiheit Vorrang genießt1.
Praxistipps: So vermeiden Autoren Rechtsverletzungen in Büchern
- Fiktionalisierung: Namen, Orte und biografische Marker sollten so verändert werden, dass keine direkte Zuordnung möglich ist.
- Perspektivwechsel: Erzählungen aus der Außensicht („er/sie“) signalisieren eher künstlerische Freiheit als Ich-Perspektiven.
- Einwilligung einholen: Bei erkennbaren lebenden Personen empfiehlt sich eine schriftliche Zustimmung.
- Rechtsgutachten: Verlage sollten kritische Passagen vorab prüfen lassen, besonders bei Schlüsselromanen.
Kritik an der Esra-Entscheidung
Verfassungsrechtler bemängeln, das Urteil begünstige eine „Zensur durch Hintertür“, da intime Themen faktisch tabuisiert würden. Die abweichenden Meinungen des Senats im Esra-Verfahren warnten bereits, dass die Grenze zwischen Kunst und Persönlichkeitsrecht hier zu unklar gezogen sei.
Fazit: Kunst braucht Spielraum – aber keine Grenzenlosigkeit
Die Spannungen zwischen Persönlichkeitsrecht und Buchveröffentlichungen bleiben eine Grauzone. Während der Esra-Fall zeigt, wie tiefe Einblicke in die Privatsphäre unzulässig sind, bestätigt das Hamburger Urteil, dass allgemeine Lebenssachverhalte frei fiktionalisiert werden dürfen. Autoren und Verlage sollten stets prüfen: Könnte eine Person sich zu Recht bloßgestellt fühlen – oder überwiegt das öffentliche Interesse an künstlerischer Auseinandersetzung?
Für Betroffene gilt: Nicht jede Ähnlichkeit ist eine Rechtsverletzung im Buch. Erst wenn konkrete Umstände das Persönlichkeitsrecht spürbar verletzen, besteht Anspruch auf Unterlassung – wie der Esra-Fall eindrücklich lehrt.
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